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Interview mit Roland Roost vom 20.11.2011 (Fredi Lerch), Teil 1/6; (weitere Unterlagen sind vorhanden: Inhaltsverzeichnis des Interviews [PDF] und Fotos der Interviewten - kontakt@sozialarchiv.ch) Das gesamte Interview ist im Lesesaal des Schweizerischen Sozialarchivs abrufbar.


Objekt nur auf Anfrage verfügbar
SignaturF 1021-908A_preview
BestandF_1021 Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen erzählen - UNIA Oral History Projekt [TON]
Bestandesbeschrieb

Die Gewerkschaft UNIA hat 2013 das Projekt "Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen erzählen" lanciert. Serie 1 (entstanden 2013) umfasst 16 Interviews, Serie 2 (entstanden 2015) umfasst 8 Interviews, Serie 3 (entstanden 2016/2017) umfasst 17 Interviews. Die ausführlichen Gespräche geben Auskunft über Herkunft, politische Sozialisierung und die praktische Gewerkschaftsarbeit. Ebenfalls diesem Bestand zugeordnet sind 6 Interviews, die Rita Schiavi 1982 und 1983 mit wichtigen Gewerkschaftsexponenten geführt hat, und das Interview, das Fredi Lerch 2011-2012 quasi als Pilot mit Roland Roost geführt hat. - Online sind aus vertraglichen Gründen nur kurze Ausschnitte zugänglich. Die Interviews können aber im Lesesaal des Schweizerischen Sozialarchivs konsultiert werden. Für publizistische Zwecke (Ausstrahlung - auch nur von Teilen des Gesprächs - in elektronischen Medien, Verbreitung von Tonträgern, Publikation von Transkriptionen etc.) ist die Einwilligung der interviewten Person einzuholen. Übersicht über die interviewten Personen: Serie 1 (16 Interviews): Yolanda Cadalbert, Henri Chanson, Heinz Dreyer, Rita Gassmann, Fernando Gianferrari; Marijan Gruden, Peter Küng, Dario Marioli, Peter Nabolz, Josiane Pasquier, Fritz Reimann, Roland Roost, Pierre Schmid , Vincenzo Sisto, Gilbert Tschumi , Max Zuberbühler. Serie 2 (9 Interviews): Christiane Brunner, Bruno Cannellotto, François Favre, Ruth Jäggi Ernst Jordi, Raffaelle Maffei, Martin Meyer, Hans Schäppi, Claude Vaucher. Serie 3 (17 Interviews): Renzo Ambrosetti, Peter Baumann, Manuel Beja, Franz Cahannes, Antonio de Bastiani, Daniel Heizmann, Francine Humbert-Droz, Bernd Körner, Fabienne Kühn, Beda Moor, Alfiero Nicolini, Vasco Pedrina, Andreas Rieger, Jacques Robert, Rita Schiavi, Fabio Tarchini, Vreny Vogt. Interviews von Rita Schiavi aus den 1980er Jahren (7 Interviews): Eduard Blank, Männi Gloor, Elsi Hasler, Walter Kobi, Elsi Hasler, Traugott Hasslauer, Ewald Käser. Interview von Fredi Lerch, 2011-2012 (1 Interview): Roland Roost.

Die Gewerkschaft UNIA hat 2013 das Projekt "Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen erzählen" lanciert. Serie 1 (entstanden 2013) umfasst 16 Interviews, Serie 2 (entstanden 2015) umfasst 8 Interviews, Serie 3 (entstanden 2016/2017) umfasst 17… — mehr...

Serientitel
  1. Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen erzählen - UNIA Oral History Projekt
Urheber
  1. Gewerkschaft UNIA
Copyright
Geopolitik
  1. Europa
  2. Schweiz
Periode
  1. Neuzeit
  2. 20. Jh.
Personen
  1. Roost, Roland (1931-2017)
Objektträger
  1. Tonaufnahme
  2. digitale Tonaufnahme
  3. MP3
Sprache
  1. schweizerdeutsch
DetailinformationGespräch I, Bahnhofbuffet Zürich, 20. 10. 2011
[Roland Roost legt ein achtseitiges Manuskript mit biografischen Notizen vor (unterdessen transkribiert).]
Damit kannst du am ehesten etwas machen, journalistisch, wozu ich einfach nicht in der Lage bin.
[lesend beginne ich ergänzende Fragen zu stellen:] Welchen Beruf hatte der Vater?
Maschinensetzer bei den «Glarner Nachrichten». Vermutlich ist er an Blasenkrebs gestorben, weil: Maschinensetzer hatten mit Bleiguss zu tun. Da entstehen Bleidämpfe. Wir vermuten, dass das ausschlaggebend war, dass er so früh gestorben ist. Er war ungefähr 45, als er gestorben ist.
Dann ist deine Mutter zurückgeblieben mit dir und drei Geschwistern.
Ja. Ich war zusammen mit einer Schwester und einem Bruder. Und später ist dann noch einmal ein unehelicher dazugekommen, ein zehn Jahre jüngerer Halbbruder. Der Älteste heisst zum Geschlecht Monbaron, der war vom ersten Mann meiner Mutter. Die Schwester, Margrit, hiess dann wie ich Roost. Und der René, der später gekommen ist, heisst dann Bräm – das war der ledige Name meiner Mutter.
Eine Patchworkfamilie, würde man heute sagen.
Dieses Unheheliche im Glarnerland hinten mit seinem dörflichen Charakter, das ist natürlich von den Nachbarn grausam aufgenommen worden – dazumal noch, heute wäre das auch nicht mehr so.
Hast du als kleiner Bub etwas davon mitbekommen, dass du nicht in einer normalen Familie aufgewachsen bist?
Zum Teil. Eigentlich erst, als der Halbbruder gekommen ist. Das habe ich dann als Zehnjähriger schon mitbekommen, dass sie auf einmal schwanger gewesen ist, nachdem sie ein paar Jahre lang keinen Mann gehabt hatte… Der Lokomotivführer hat’s mit meiner Mutter gut gekonnt. Und er wurde dann der Vater vom René. Er war verheiratet, und später hat es noch einen Vaterschaftsprozess gegeben. Er musste dann bezahlen. Das habe ich zwar als Kind mitbekommen, aber eigentlich nicht richtig realisiert, was los ist. Aber mitbekommen hat man es schon.
Eine Episode: Wir haben ja in Glarus den «Tages-Anzeiger» vertragen. Deshalb mussten wir immer um halbeins zum Bahnhof, um die Zeitungen zu holen und sie dann in Glarus zu verteilen.
Die drei Roost-Kinder haben in ganz Glarus den Tages-Anzeiger vertragen?
Ja, bis hinauf nach Riederen. – Das haben wir jeweils über den Mittag gemacht, zwischen der Schule. Mit den Lehrern sind wir z’Schlag cho – mit einer Ausnahme. Das war Kaspar Freuler , der war im Glarnerland ein bekannter Schriftsteller, der die «Göldi» geschrieben hat, die Hexengeschichte. Er war mein Lehrer in der dritten Klasse.
Nach dem «Tages-Anzeiger»-Vertragen bin ich am Nachmittag etwa ein bisschen zu spät in die Schule gekommen. Einmal, als ich zu spät kam, hatte ich ein bisschen schwarze Finger von der Druckerschwärze der neuen Zeitungen. Da hat er mich vor der ganzen Klasse zusammengeschissen, warum ich erst jetzt komme und mit derart dreckigen Händen. Dann hat er gemerkt, dass aus meinem Hosensack das Nastuch ein bisschen hervorgeschaut. Er hat das herausgezogen – kannst dir vorstellen, das Nastuch von einem Zehnjährigen, das sieht grausam aus, ist ja klar. Da hat Freuler gesagt: So, jetzt gehst du im ganzen Schulhaus in jedes Klassenzimmer, dein Nastuch zeigen. Das musste ich dann machen, als Zehnjähriger. Und in der einen Klasse sass auch noch meine drei- oder vier Jahre ältere Schwester. Die hat sich natürlich grausam geschämt für ihren kleinen Bruder. Das ist ein bleibendes Erlebnis aus jener Zeit mit dem Kaspar Freuler.
Was ist diese Freuler für ein Mann gewesen?
Als Lehrer, würde ich sagen, unter dem Durchschnitt. Er hat uns einfach immer machen lassen, während er vorn am Pult seine Sachen geschrieben hat. Wir mussten die ganze Zeit Rechnungen machen nach einer Schablone, auf der man plus, minus, mal und durch einstellen konnte. Wir mussten der Reihe nach die Rechnungen mit den Resultaten hersagen und er hat glaub ich nicht einmal zugehört, was wir sagten. So ist das stundenlang gegangen.
Der hat seine Zeit in der Schule einfach abgesessen, um Geld zu verdienen?
Ja, genau. Sonst hatte ich mit den Lehrern eigentlich wenig Probleme, mit Ausnahme – das war dann, nachdem ich in der vierten Klasse nach Ennenda gekommen bin: Dort hat man natürlich den Unterschied stark gemerkt von den Kindern reicher Eltern und wir armi Chäibe. Auch in der Schule hat sich das manifestiert. In Ennenda lebten als reiche Leute zum Beispiel die Streiff und die Freuler, die damaligen Besitzer der Textilfabriken, dazumal war das noch sehr lukrativ.
Meine Mutter hat auch in einer dieser Textildruckereien gearbeitet. Dort haben sie farbige Baumwolltücher gedruckt, die dann nach Afrika geschickt worden sind. Die Arbeiterinnen mussten diese schweren Druckhebel auf die Tücher legen, mit einem Hammer draufschlagen und so das nächste und nächste und nächste. Abends ist die Mutter jeweils nach Hause gekommen, z’Tod uf dr Schnore. Verdient hat sie dafür 50 Rappen in der Stunde, also ein Fünfliber pro Tag. Kannst dir vorstellen, wie wir gelebt haben.
Hast du eine Vergleichszahl, der Hauszins oder so?
Nein, den Hauszins weiss ich nicht. Ich weiss nur, dass wir in den ersten Jahren innerhalb von Glarus sieben- oder achtmal gezügelt sind, vermutlich, weil sie den Hauszins nicht bezahlen konnte. Und immer in Wohnungen, die unterster Standard gewesen sind. In Ennenda sind wir danach immer in der gleichen Wohnung gewesen.
Danach sind wir nach Stäfa gezogen. Damals war ich vierzehn oder fünfzehn. Dort bin ich zuerst noch in die dritte Sek [also in die neunte Klasse, fl.], aber ich habe gesehen, dass ich nicht mitkomme, ich war zu weit hintennach. Darum bin ich dann ausgetreten aus der Schule.
Dann bist du mit fünfzehneinviertel in die Jowa zur Arbeit?
Nein, bevor ich zur Migros gegangen bin, habe ich eine Elektrikerlehre angefangen, draussen in Schaffhausen. Dort konnte ich bei einer Tante wohnen. Aber jener Lehrmeister war völlig unfähig. Der hat mich nur als billigen Handlanger behandelt. Verdient habe ich ganz wenig, ein Sackgeld. Ich bin dort schnell weggegangen.
Wie bist du denn zu dieser Lehre gekommen?
Durch diese Tante, in Thayngen ist das gewesen. Der Elektrikermeister hat dann – weil ich einfach gegangen bin – zweihundert Franken verlangt von mir, Schadenersatz, weil ich die Lehre abgebrochen hätte. Meine Mutter ist dann zum Bringolf in Schaffhausen. und der hat geschaut, dass ich das nicht bezahlen musste. Und der Elektriker hat darauf keine Lehrlinge mehr bekommen. Das hat Bringolf veranlasst.
Es war also weitherum klar, dass der Mann unfähig ist?
Ja.
Hat er auch geschlagen?
Nein, das nicht. Aber er war ein unmöglicher Typ, ein Choleriker. Und seine Frau ist dann jeweils zu mir cho brüele.
Du musstest in deren Haus wohnen?
Nein. Ich habe bei der Tante gewohnt.
Und wie lange hast du’s bei dem ausgehalten?
Etwa drei Monate. – Danach bin ich in die Jowa nach Meilen arbeiten gegangen, in die Migros-Schoggifabrik . Das war für mich das Schlaraffenland, nach dem Krieg. Schoggi und Guezli und Früchtekonfitüren haben sie gemacht. Für mich war das riesig: Ich konnte Schoggi essen, soviel ich wollte und habe in dem Jahr, in dem ich dort war, zehn Kilo zugenommen. Die Arbeit war eigentlich interessant, weil ich alles ein bisschen mitgemacht habe: Konfitüre, Schokolade, Guezli. Ich habe dort aber auch erlebt, was es heisst, in einer Fabrik eintönige Arbeit zu machen. Zum Beispiel, wenn man an den grossen Backöfen die Guezli wegnehmen musste. Das ging wie der Teufel. Als Fünfzehn-, Sechzehnjähriger bis du da ab und zu fast überfordert gewesen. Bei grosser Hitze, bei fünfzig, sechzig Grad, neben einem Ofen. Das war quasi Fliessbandarbeit.
Weil ich eine Lehre machen wollte, bin ich nach einem Jahr gegangen. Darum ging ich danach in die Druckerei Vontobel in Feldmeilen . In dieser Druckerei hätte ich eine Lehre machen können als Offset-Drucker. Das hat mich gereizt, irgend etwas Graphisches. Ich bin mich vorstellen gegangen und man hat mir gesagt: Doch, einen Lehrling können wir brauchen, aber erst in zwei Jahren. In dieser Überbrückungszeit bis zum Lehranfang musste ich «einlegen». Ich war Einleger an einer Steindruckmaschine. Wie soll ich dir diese Arbeit erklären? Der Stein läuft immer hin und her und eine Rotationsmaschine druckt. Und du musst die Papierbögen auf den Millimeter genau einlegen, dann nimmt’s den Bogen über den Zylinder in die Maschine hinein und bedruckt ihn gleichzeitig. Das ist tagelang so gegangen: Du musstest nichts als Bogen nehmen, Bogen einlegen, Bogen nehmen, Bogen einlegen. Eintönigeres kannst du gar nicht mehr machen. Das waren meine Eindrücke von Arbeiten, wie sie eintöniger nicht sein könnten. Im Prinzip nichts anderes als Fliessbandarbeit.
Durch diese Arbeit habe ich mir damals Krampfadern geholt. Bei diesen Maschinen musstest du vornüber liegen und die Beine waren dauernd beansprucht durch die Gewichte, die du hineinlegst[?]. Damals habe ich das noch nicht gewusst. Aber später, als ich die Krampfadern hatte, habe ich gewusst, das ist von dieser Arbeit her, weil mir damals abends die Beine immer schaurig weh getan haben.
Und dann hätte ich eben die Lehre anfangen können, musste aber zuvor noch zum Augenarzt, weil Offsetdruck ja ein Druck mit verschiedenen Farben ist. Sie haben mir die Augen untersucht und herausgefunden, dass ich farbenblind bin, rot-grün-blind. Deshalb konnte ich dann die Lehre nicht beginnen. Ich hätte sie gerne gemacht, ich hatte sonst Freude an der Arbeit.
So machte ich 1951 vorderhand die RS. E truurigi Zyt (lacht), verlorene Zeit, Katastrophe. Ich war Flab-Kanonier, in Bière. Lieber vergessen. Schrecklich, schrecklich. Ich blieb Soldat und passte auf, damit sie mich nicht aushoben zum Weitermachen. Immer zuhinterst stehen, ja nie vorn. Aber machen konnte ich nichts, ich hätte verweigern müssen. So habe ich dann die acht WK’s gemacht. Aber es war immer ein Müssen.
Nach der RS hat mich ein Kollege, der die Prüfung als Gipser gemacht hat, mit auf den Bau genommen. Er hat gesagt: Komm zu mir auf den Bau, kannst bei mir anfangen. So bin ich mit ihm jeden Tag mit dem Zug von Stäfa nach Zürich auf seine Baustelle gefahren und habe für dessen Arbeitgeber zu arbeiten begonnen. Dieser Arbeitgeber war ein früherer Gipser, der in der Gewerkschaftsgruppe der Gipser mitgemacht und dann selbständig angefangen hat.
Begonnen habe ich als Handlanger. ich musste Pflaster tragen. Zuerst beim dem Letzigrund. Dort entstanden damals die ersten zwei Hochhäuser von Zürich, etwa zehn, elf Stockwerke. So musste ich den Pflaster diese Stockwerke hoch tragen. Heute würdest du das nicht mehr machen. Aber damals mussten die Handlanger wirklich noch schwer krampfen. Auch zum Beispiel die 50-Kilosäcke Gips hochtragen. Du bist jeweils drei, vier Stöcke weiter, dann hast du wieder abgestellt zum Verschnaufen. Das hat dich schon drangenommen. Der Betrieb war noch so klein, dass der Arbeitgeber nicht einmal Geld für einen Schlauch gehabt hat. Deshalb musste ich in einer Tause (Brännte) sogar Wasser die zehn Stockwerke hochtragen. Furchtbar. Mit dem Rücken ging es aber zum Glück, da kriegte ich erst später Probleme.
Dieser Kollege hat mich dann allmählich angelernt als Gipser. Ich habe mir sehr viel Mühe gegeben und bin eigentlich sehr schnell ins Gewerbe hineingekommen. Habe auch Fachbücher gelesen. Habe mich überhaupt, was bildungsmässig möglich gewesen ist, weitergebildet als Gipser.
Aber du hast den Beruf gelernt ohne eine Lehre und ohne die Gewerbeschule?
Das ist so, ja. – Wir sind dann zusammen auch nach Basel und nach Luzern arbeiten gegangen, dort ging ich schon als Gipser mit. Und in Basel habe ich dann meine Frau kennengelernt. Da bin ich heute noch froh.
Aber jetzt sind wir schon ungefähr bei 1950?
Moment mal… ein bisschen mehr. 54, 55. – Wir sind dann wieder nach Zürich zurück und haben für verschiedene Meister gearbeitet, zum Beispiel fünf Jahre für Bindella, der damals ein Gipsergeschäft hatte. Und von Bindella bin ich dann weiter in die Gipser- und Malergenossenschaft (GMGZ). Und dort ist es für mich auch beruflich gut vorwärtsgegangen. Ich bin dort sogar Geschäftsführer Stellvertreter geworden und hatte eine sehr gute Zeit. Weil die ganze gewerkschaftliche Aus- und Weiterbildung konnte ich in jener Zeit machen, in der ich in der GMGZ gewesen bin. Ich hatte viele Kurse und Arbeiterschulung und konnte dafür fehlen im Geschäft. Die haben das akzeptiert.
Jetzt sind wir quasi schon zum ersten Mal vor dem Streik. Wir müssen noch einmal zurück. Unter anderem gab es ja in deiner Jugend den Zweiten Weltkrieg, ich denke, das war noch während der Zeit in Glarus und dann in Ennenda. Wie hast du den Krieg erlebt?
Vor allem erinnere ich mich, dass wir immer viele Soldaten im Dorf oder in der Stadt gehabt haben und ich tagtäglich mit dem Chesseli zur Soldatenküche gegangen bin, Resten abholen, die gratis gewesen sind: Suppe, Brot, Teigwaren. Dieses Essen hat uns damals soweit über die Runden geholfen, auch finanziell. Wir haben damals immer auch von der Soldatenküche gelebt. Das ist eigentlich meine Erinnerung an den Krieg.
Was man nebenbei noch mitbekommen hat: Meine Mutter hatte ein Gschläik mit einem Deutschen. Also Gschläik… er war ihr Freund. Und der musste dann hinaus, er ist rekrutiert worden. Am Kriegsanfang lebte er in der Schweiz und war praktisch fast schon Schweizer. Aber er ist dann doch gegangen, weil er das Gefühl gehabt hat, er müsse in die Wehrmacht helfen gehen. und er hat unbedingt gewollt, dass wir auch mitkommen sollten. Aber meine Mutter hat gesagt: Kommt nicht in Frage. ich bleibe hier mit meinen Kindern. Das hat mich vermutlich gerettet vor anderen Abenteuern.
Diesen Freund haben wir als Kinder «Pappeli» gesagt. Wir mochten ihn gut. Er hat hochdeutsch gesprochen, wir haben das damals gut verstanden.
Und was ist aus ihm geworden?
Nie mehr etwas gehört. Ich weiss nicht, ist er im Krieg verloren gegangen. Er hat sich bei der Mutter nie mehr gemeldet.
Welche Art Mensch war denn Deine Mutter?
Eine sehr energische Frau. Sie musste sich immer durchbeissen. Gegenüber uns, gegenüber Kindern überhaupt konnte sie ungeheuer lieb sein, aber auch wahnsinnig streng…
…aber nicht böse?
Jä… teilweise haben wir es als böse empfunden, weil: Sie ist immer todmüde nach Hause gekommen und wir als Kinder haben natürlich Flausen im Kopf gehabt und haben zu Hause nicht gemacht, was wir hätten tun sollen. Und dann het’s halt uf de Ranze gee, regelmässig, kannst du fast sagen.
Sie hat geschlagen?
Ja. Das habe ich damals als böse empfunden. Heute habe ich Verständnis, weil ich weiss, was diese Frau durchgemacht hat. Die ganze Geschichte als alleinerziehende Mutter, die über die Runde kommen muss, die schauen muss, dass man ihr die Kinder nicht wegnimmt…
Das hast du im Vorgespräch angedeutet. Weißt du dazu mehr?
Ich weiss nur, dass sie immer ein wenig unter diesem Stress gestanden ist, dass das auch zur Diskussion gestanden ist, dass sie auch Schulden gehabt hat. Aber Genaueres weiss ich nicht.
Hast du in jener Zeit jemals einen Vormund gehabt?
Nein, nein.
Das war damals häufig, dass bei alleinstehenden Frauen ein Vormund eingeschaltet wurde.
Aber das hat es bei uns nicht gegeben mit Ausnahme eines Pfarrers in Glarus. Der erhielt von einem Bruder meines Vaters jeden Monat 20 Franken, die ich bei diesem Pfarrer immer abholen musste. Der hat dann jeweils gefragt, wie es gehe und mich ein wenig ausgefragt.
So hatte er gleich ein bisschen die Kontrolle, wie es steht bei dir zuhause.
Könnte so eine Art Vormund gewesen sein.
Aber eigentlich war er der Treuhänder deines Onkels, der die Familie mit einer 20er Note unterstützt hat.
Ja. Jener Onkel war ziemlich wohlhabend. Er war Direktor der Thomi in Basel.
Dann waren 20 Franken pro Monat nicht übertrieben.
Die haben ihm wahrscheinlich nicht weh getan. – und der andere Bruder meines Vaters war Chef des Elektrizitätswerks in Schaffhausen, habe ich später irgendmal vernommen. Aber Kontakt habe ich mit diesen Brüdern des Vaters nie gehabt.
Zweiter Weltkrieg: Waren nicht auch die Lebensmittelmarken ein Thema?
Doch, die waren immer ein Thema. Weil: Wir hatten immer von allem ein bisschen zu wenig, es war ziemlich knapp. Aber eben: Dank der Soldatenküche sind wir immer über die Runde gekommen. Und eine zeitlang hatten wir zusätzlich noch einen eigenen Garten, einen Pflanzplätz. – Und mein älterer Bruder – er war ja zehn Jahre älter als ich –…
…und der jüngere zehn Jahre jünger?
Ja, genau. – Und dieser ältere Bruder hat Kaninchen gezüchtet, und so hat’s ab und zu mal einen Chüngelbrate gegeben.
War dieser ältere Bruder schon verheiratet?
Nein, der hat noch zuhause gelebt, bis etwa 25. Dann ist er weg Richtung Biel-Westschweiz, gearbeitet hat er alles ein wenig, Velomechaniker zum Beispiel. Aber solange er zuhause gewesen ist, hat er die Mutter natürlich ein bisschen unterstützen können. Nachher natürlich nicht mehr. Er hat dort unten dann geheiratet.
Aber wenn du sagst, die Behörden seien nie ins Haus gekommen, ist das schon eine grosse Leistung deiner Mutter. Sie musste diese Leute sicher abwehren.
Vermutlich. Aber Näheres habe ich nicht mitbekommen.
Wie ist es später mit deiner Mutter weitergegangen?
Sie ist dann mit uns wegen einer Bekanntschaft nach Stäfa gezogen. Das war ein Ofenbauer, den sie damals kennengelernt hat durch die Zeitung. Aber mit dem ist sie nur einen Monat oder zwei zusammengewesen. Dann haben wir innerhalb von Stäfa wieder gezügelt. Und dann hat sie einen Bähnler kennengelernt. Mit dem hat sie später noch einmal geheiratet, einen Streckenwärter. Und später, nach seiner Pensionierung, ist sie mit ihm ins Tessin gezogen, hat dort unten gelebt und ist auch dort unten gestorben, 1982. Sie ist bin Caslano beerdigt. Zuvor habe ich sie ab und zu noch im Tessin besucht.
Der Kontakt war später gut?
Soweit schon. Mit Ausnahme meiner Frau. Die beiden sind wie Hund und Katze gewesen. Das war ein bisschen belastend.
Wann ist sie geboren?
1898.
Dann war sie 33, als sie dich geboren hat und 43 beim Halbbruder René.
Sie eben sehr jung Witwe geworden. Sie hat immer noch gesucht, sie hatte allpott hier einen Freund oder dort einen Freund. Aber eben, in dem Alter und mit Kindern am Hals ist es schwierig.
Wie alt bist du gewesen beim Tod deines Vaters?
Dreijährig. Aber ich habe praktisch keine Erinnerungen an ihn. Die Schwester schon, sie ist eben vier Jahre älter als ich. Sie hat gute Erinnerungen und hat mir etwa ein bisschen erzählt: Er muss ein phantastischer Typ gewesen sein.
Alles in allem eine harte Jugend, die du gehabt hast.
Ja… ich sage das ab und zu: Wenn ich etwa mal ins Glarnerland hingere komme, dann habe ich immer ein Drücken auf der Brust. Dann kommen gewisse Erinnerungen hoch, die ich nicht aus mir herausbringe.
Die du jetzt auch nicht sagen könntest?
Nein… es ist einfach ein ungutes Gefühl, wenn ich dorthin komme.
Schade. Weißt du, was ich mir überlegt habe? Wir konnten zusammen ins Glarnerland fahren und du würdest mir in Glarus und Ennenda zeigen, wo du gewesen bist und ich würde das mit dem Fotoapparat dokumentieren.
Die Häuser wird es wohl nicht mehr geben. Das waren schon alte Krücken, als wir drin gewohnt haben. – Ich bekomme immer noch die Einladungen zu den Klassenzusammenkünften. Aber ich gehe praktisch nicht mehr. Es belastet mich zu stark. – Dafür hatte ich nachher gute Zeiten. Ab Stäfa war dann alles gut, die ganze Entwicklung.
Nach Stäfa kämst du allenfalls mal auf einen Ausflug?
Jaja. Aber ich wüsste nicht, was wir dort anschauen wollten, vielleicht der Fussballplatz, wo ich noch gespielt habe.
Du hesch gschuttet?
Ja, bei den Junioren.
Aber die Häuser, wo du gelebt hast, gibt es nicht mehr?
Doch, wahrscheinlich schon. Ein Haus ganz sicher. Richtung Uerikon gibt es einen grossen Rebberg zwischen Stäfa und Rapperswil, und oberhalb steht ein Häuschen, ein Bahnwärterhäuschen. Dort haben wir gewohnt. Ich bin seither nie mehr dort gewesen.
Schauen wir doch, ob wir mal einen Ausflug dorthin machen und im Zug unser Gespräch weiterführen. – Andere Frage: Was hast du als Bub gelesen oder gemacht; Dinge denen man heutzutage Hobby sagen würde? Hattest du überhaupt Zeit?
Doch. Doch, ich bin immer eine Leseratte gewesen. Ich habe wirklich sehr viel gelesen, und als ich dann in der Gewerkschaft angefangen habe, las ich vor allem sozialkritische Autoren, Steinbeck, Sinclair, Ovens, dann Marx natürlich. Sein «Manifest» habe ich mehr als einmal gelesen. Ich habe immer ein bisschen Sozialkritisches gesucht. Und wenn ich von einem etwas gut gefunden habe, dann habe ich immer sein halbes Werk durchgelesen in der Pestalozzibibliothek, da gab es eine grosse an der Weinbergstrasse. Ich habe manches Mal die Nacht durchgelesen und am nächsten Morgen bin ich arbeiten gegangen, ich war dann zwar am andern Tag müde, aber in diesem Alter magst du das verkraften. Als ich dann allerdings als Gipser gearbeitet habe, ging das nicht mehr. Diese Arbeit war dann zu streng. Da habe ich den Schlaf gebraucht.
Wie bist du in die Gewerkschaft gekommen?
Die Gipser waren damals eine starke Gewerkschaftsgruppe, die Gipser Zürich sind schon immer eine starke Gruppe gewesen. Die hat praktisch keinen in dieser Branche arbeiten lassen, der nicht gewerkschaftlich organisiert gewesen wäre. Ich war noch nicht lange auf der Baustelle, ist schon einer gekommen und hat gesagt: Du, bei uns ist man gewerkschaftlich organisiert, chunnsch äu, he. So ist man praktisch aufgenommen worden. Und mich hat das dann sehr schnell stark interessiert, was da passiert.
Für dich war der Beitritt kein Müssen?
Nein, gar nicht, ich war sofort engagiert. Ich habe dann auch verschiedenste Bildungskurse gemacht in der Arbeiterschule.
Bist du schon der GBH beigetreten?
Nein, das war noch der SBHV, der Schweizerische Bau- und Holzarbeiter-Verband. Der SBHV ging dann in der GBH auf. Später GBI und jetzt Unia. Diese Umwandlungen habe ich dann alle auch mitgemacht.
In welchem Bereich hast du damals Weiterbildungen gemacht?
Querbeet: Volkswirtschaft, Rhetorik, Schreiben, alles.
Waren das Gewerkschafter, die das unterrichtet haben?
Hauptsächlich ist die Arbeiterbildung vom Gewerkschaftsbund aus gemacht worden. Bruno Muralt – hast du nicht mehr gekannt? Er war damals Leiter der Bildung beim Gewerkschaftsbund. Dann Fritz Leuthy , auch Sekretär vom Gewerkschaftsbund. Er hat dann die Nachfolge gemacht von Muralt. Die haben diese Kurse eigentlich gegeben, wenn es nicht direkt gewerkschaftsintern vom SBHV oder vom GBH gewesen ist. Später habe ich dann auch selber Kurse gegeben. Vertrauensleuteschulung zum Beispiel.
Ungefähr Anfang der 50er Jahre warst Du junger Erwachsener. Hast du von den damaligen Jugendkulturen etwas mitbekommen? In welchen Kreisen hast du damals verkehrt?
Schwierig zu sagen…
In der Stadt hat es ja damals Jazzclubs und solche Sachen gegeben.
Nein, das ist an mir vorbei. Ich habe ja mit dem Gipserkollegen, mit dem ich zusammengearbeitet habe, in Zürich ein Zimmer gehabt, danach zusammen eine Wohnung. Wir haben uns am Samstag jeweils schön angezogen und sind abends miteinander go schwoofe, in die Nachtclubs. Go Fraue ufriisse. Aber eine Jugendkultur wie heute hat es damals noch nicht gegeben.
Wollen wir diesen Kollegen namentlich erwähnen?
Röbi Zimmermann hat er geheissen.
Den gibt es nicht mehr?
Doch. Er ist ein interessanter Typ. Er war mit mir zusammen noch in der Gipser- und Malergenossenschaft. Ich als angelernter Gipser bin dann Genossenschafter geworden und er als Gipser nicht. Aber er ist menschlich halt nicht so angekommen bei den Kollegen. Und als er als Genossenschafter nicht angekommen ist, ist er zurück nach Stäfa zu seinem Bruder, der dort oben ein Gipsergeschäft geführt hat. Er hat sich anstellen lassen und dann dort sein weiteres Leben gemacht.
Was er gemacht hat… er war ein grausiger Anhänger der schweizerischen Fussballnationalmannschaft. Er hat sie auf der ganzen Welt begleitet. Im Tages-Anzeiger ist einmal eine ganze Seite darüber erschienen , was er alles gemacht hat als Fan der Nati. Er hat selber Fanreisen organisiert. Und letzthin habe ich einmal gelesen, er habe 900 Reisen unternommen zusammen mit der Nationalmannschaft. Er ist ein Jahr älter als ich. Ich habe mit ihm später nur noch selten Kontakt gehabt, wenn wir einander zufällig begegnet sind.
Er hat sich dann in der Gewerkschaft nicht engagiert?
Nein. – Er war mit mir zusammen noch im Vorstand der Gipser-Gruppe, ist dann aber in dieser Zeit nach Stäfa ausgezogen. Später habe ich von ihm nichts mehr gehört. Er ist ja selber Arbeitgeber geworden, zusammen mit seinem Bruder. Er hat sich an dessen Firma beteiligt.
A propos Fussball: Du hast Dich ja da auch engagiert.
Aber nicht stark, nur am Rand. Ich bin immer ein bisschen ein GC-Fan gewesen.
Aber die Nationalmannschaft…
…nein.
Aber damals war ja der Nationalismus schon auch ein Thema. Geistige Landesverteidigung zum Beispiel.
Ja, ja…
Du warst eher zu jung damals, um das bewusst zu erleben?
Jaja. Das hat mich nicht speziell…
Aber als junger Erwachsener hast Du den Kalten Krieg mitbekommen? Standest du nicht unter Kommunismusverdacht?
Wir waren als Gewerkschafter schon als Kommunisten verschrieben. Dabei bin ich nie Kommunist gewesen. Ich bin ja schon 1952/53 in die SP eingetreten. Als SP’ler bin ich zwar ein bisschen unter Druck gewesen, weil der ganze Vorstand in der Gruppe Gipser bestand aus Alt-Kommunisten. Die haben bei mir immer ein bisschen gedrückt: Du solltest doch auch zur PdA kommen. Aber der Sekretär, den wir damals hatten, Schwammberger, der war SP und hat mich aufgefordert, in die SP zu kommen. Für mich war er ein Top-Mann, der mir viel geholfen hat. Er hat später als Sekretär den ganzen Gipserstreik mit mir zusammen gemacht. Ich war ja dann dort der Streikpräsident. Schwammberger war wichtig, dass ich zur SP ging, dazu kamen gewisse Vorbehalte gegen die Stalinisten. Wobei: Sie sind gute Gewerkschafter gewesen, Top-Gewerkschafter mit viel Drive und sehr aktiv. Aber daneben eben dieser Stalinismus, absoluter Kad[av]ergehorsam. Und dies und jenes hat man ja damals über die Sowjetunion schon mitbekommen. Aber umgekehrt hat man hier in der Schweiz ja auch dauernd geschossen gegen die kommunistischen Länder und ihre Regierungen. «Moskau einfach!», das hast du immer wieder gehört.
Aber der Weg, den man macht, hat vor allem viel mit Zufall zu tun: Wichtig waren die rechten Leute zur rechten Zeit, die einem einen den Weg gezeigt und irgendwo inegschupft händ. Ohne den Gipserstreik wäre ich vermutlich später auch nie Zentralsekretär geworden. Dort hat mich die ganze Schweiz kennengelernt. Solche Zufälle waren bestimmend.
Als ich dann später Zentralsekretär geworden bin [1987-1991], hatten wir viel Kontakt mit den östlichen Gewerkschaften, in der DDR, in Russland, in Österreich – gut, das ist Westen –, aber auch in Jugoslawien, in der Tschechoslowakei, in Ungarn. Da habe ich überall Besuche gemacht oder die Kollegen sind zu uns gekommen. Und das hat sich natürlich dann auch in den Fichen niedergeschlagen. Ich habe Fichenkopien erhalten, in denen diese Reisen alle aufgezeichnet gewesen sind. Ich habe oft daran gedacht, was wohl die kommunistischen Kollegen, die wir damals besucht haben, jetzt machen, nachdem das System zusammengebrochen ist.
Kontakte hast Du keinen mehr?
Nein. Man hat nichts mehr gehört von ihnen. Sie sind irgendwo verschwunden. – Man muss auch noch sagen: Der Kalte Krieg hat uns Gewerkschaftern geholfen, die Angst vor den Kommunisten hat mitgeholfen, unser Sozialsystem aufzubauen. Sie haben gewusst, dass – wenn sie bei uns nichts machen – die kommunistische Bewegung bei uns auch Boden bekommen wird. eEs ist ja eindeutig: Mit dem Fall der Mauer in Berlin hat der Kapitalismus sofort uneingeschränkt die Herrschaft übernommen, und die Arbeiterbewegung ist zurückgegangen. Eindeutig.
Hast Du die Fiche noch?
Nein.
Weggeworfen?
Ja. – Wir hatten mit diesen Gewerkschaften damals einfach gute Beziehungen. Zwischen uns gab es kein Kriegsverhältnis. Der Kalte Krieg hat sich mehr auf der politischen Ebene abgespielt.
Wie waren denn diese Kontakte? Warst du viel unterwegs?
Ja. In Europa haben wir praktisch alle Länder besucht. mit Ausnahme von Israel. Dort bin ich nie gewesen. Aber sonst: die skandinavischen Staaten, Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien – überall. Das waren immer auch freundschaftliche Kontakte. Man ist eingeladen gewesen zu ihren Kongressen, und sie sind gekommen, wenn wir Kongress gehabt haben.
Du musstest dort Reden halten?
Nein. Wir waren Gäste. und als Gast hat man dann auch nicht versucht, sich in die politischen Verhältnisse einzumischen. Man hat schon Diskussionen gehabt. Aber nicht, dass man da [unverständlich] heiklen [unverständlich].
Jetzt sind wir schon weit vorgerückt in der Biografie. – Ich lese da in Deinen Notizen… Abends ist deine Mutter auch noch Serviertochter gewesen. Doppelt und dreifach belastet…
Ja. Sie arbeitete überall, wo sie noch einen zusätzlichen Franken verdienen konnte.
Heisst das: Sie hat bis halb zwölf abends serviert und morgens um sieben stand sie wieder in der Fabrik?
In der Regel hat sie am Samstag serviert und am Sonntag konnte sie dann ausschlafen. – Einmal hat sie General Guisan bedient in Glarus. Das hat sie immer wieder erzählt.
Hat’s drumherum irgendeine Episode gegeben?
Nein, das weiss ich nicht. – Aber ich hatte selber eine Episode: Ich war bei den Kadetten in Glarus. Als ich ungefähr zwälf war, ist Guisan einmal zu Besuch gekommen und hat jedem von uns die Hand gegeben.
Du hast Guisan mal die Hand gegeben?
Ja (lacht).
Immerhin.
Immerhin, ja.
Hat er etwas gesagt?
Da mag ich mich nicht erinnern. – Wir sind vor Ehrfurcht erstarrt (lacht).
Das ist ja auch etwas, wenn der General kommt.
Stell dir mal vor!
(lesend) Unterstützung durch die Winterhilfe… Was bedeutet das genau?
Dort musstest du einfach ein Gesuch stellen. Dann hast du im Herbst Kartoffeln bekommen, oder Äpfel, oder vielleicht Rüebli. Solche Sachen. Die konntest du bei der Winterhilfe abholen.
Also Naturalien?
Ja, kein Geld.
Kaspar Freuler, das hast du mir erzählt… dann die Sekundarschule… musstest du eine Prüfung machen?
Nein, eine Probezeit. Und die war hervorragend. Obwohl der Lehrer gemeint hat, ich hätte keine Chance…
…von der Herkunft her?
Ja. wohl schon. Ich mag mich erinnern, dass wir… von dieser fünften Klasse her sind wir nur zwei oder drei gewesen, die in die Sek sind. Die anderen beiden waren eben Mehbesseri. Und ich habe es durchgesetzt, dass ich auch gehen konnte.
Du musstest dich dafür wehren?
Ja. Obwohl der Lehrer gesagt hat, ich hätte ja doch keine Chance.
Du warst begabt, aber aus dem falschen Milieu?
Wenn ich mir Mühe gegeben habe, bin ich begabt gewesen, ja.
Das war dann in der Ennenda-Zeit?
Schon. Aber die Sekundarschule war in Glarus. Ich musste dann von Ennenda nach Glarus in die Schule.
Und dort hast du nicht mehr lange gemacht, weil du nach Stäfa gegangen bist?
Die zweite Sek, also die achte Klasse, habe ich noch fertig gemacht. Dann sind wir umgezogen. Und die dritte Sek habe ich in Stäfa besucht und abgebrochen.
Du hast also gar nicht neun Schuljahre? Achteinhalb?
Nicht einmal. Achteinviertel. Ich habe schnell gemerkt, dass ich nicht nachkomme. Die sind im Vergleich zu Glarus in der dritten Sek weit voraus gewesen.
Aber sag: es gibt doch eine neunjährige Schulpflicht? warum haben sie dich denn gehen lassen?
Obligatorisch waren acht Schuljahre. das neunte war freiwillig.
Alles in allem war Dein Übergang ins Berufsleben nicht einfach: der Schulabbruch, die Elektrikerlehre funktioniert nicht, dann die Farbenblindheit.
Gut ja. Aber in dem Alter dramatisierst du das noch nicht. Man nimmt, was kommt.
Du warst nicht verunsichert oder halb depressiv deswegen?
Neinnein.
[7.11.2011; 38600 Zeichen]
ZitationsvorschlagVideo: Gewerkschaft UNIA/F 1021-908A_preview
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